PROJEKT HYPERSOIL | Pfad: https://hypersoil.uni-muenster.de/2/01/07.htm |
Modul: Boden & Unterricht | |
Kapitel: Didaktische Legitimation | |
Seitentitel: Konstruktivistische Lerntheorien |
Konstruktivistisch orientierte Lerntheorien sind kognitionspsychologisch fundiert und korrespondieren mit der philosophischen Erkenntnistheorie des Konstruktivismus, der auf eine lange erkenntniskritische Tradition zurückgeht und mit Namen wie KANT, SCHOPENHAUER, aber auch COMENIUS oder PIAGET verbunden ist. Seit Ende der 70er Jahre gewinnen konstruktivistische Positionen im Zusammenhang mit neuen Forschungsergebnissen z.B. aus der Hirnforschung, Neurobiologie, Systemtheorie und Kognitionspsychologie zunehmend an Relevanz und der Konstruktivismus avanciert zu einem inter- und transdisziplinären Paradigma, zu einer "... Perspektive, die sich vor allem von ontologischen und metaphysischen Wahrheitsansprüchen distanziert" (SIEBERT 1999, S. 7). Danach ist die Wirklichkeit beobachterabhängig und wird abhängig von den verschiedenen Individuen subjektiv unterschiedlich wahrgenommen. Die vermeintlich objektive Wirklichkeit wird subjektiv konstruiert und interpretiert und erlangt erst in einem gemeinsamen Prozess der Kommunikation Verbindlichkeit. Der Konstruktivismus hebt damit den klassischen "Subjekt-Objekt-Dualismus" (SIEBERT 1999, S.7) und den Anspruch auf objektive Erkenntnis zugunsten eines Erkenntnismodells auf, in dem "... das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und das Erkennen als Prozess untrennbar verknüpft sind" (BRANDL 1997, S. 2). Konstruktivistisch orientierte Positionen (zur Differenzierung vgl. SIEBERT 1999, S. 8 ff.) vollziehen einen Paradigmenwechsel von einer normativer zu einer interpretativen Weltanschauung und bestätigen die Beobachterabhängigkeit von Erkenntnis, distanzieren sich aber zunehmend von der ursprünglichen erkenntnisphilosophischen Position der radikalen Konstruktivisten, wie sie z.B. von Heinz von Foerster oder Ernst von Glasersfeld vertreten wird: "Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung" (v. FOERSTER 1995, S. 40; vgl. auch v. GLASERSFELD 1995). Besonders erfolgreich haben sich konstruktivistisch orientierte Konzepte in der pädagogischen Psychologie, empirischen Pädagogik und Lehr-Lernforschung durchgesetzt. Hier wird der Lernprozess als ein individueller Vorgang der aktiven Wissenskonstruktion interpretiert. Wissen wird demnach nicht einfach angeeignet oder durch Instruktion übernommen, sondern selbstaktiv und individuell unterschiedlich konstruiert. Dementsprechend ist Wissen nicht vermittelbar, sondern muss immer wieder individuell konstruiert, reorganisiert und erweitert werden. REICH (1996) spricht von einem Erfinden (Konstruktion), Entdecken (Rekonstruktion) und Enttarnen (Dekonstruktion) der Wirklichkeit. Einige grundlegende Annahmen, die konstruktivistisch
orientierten Lerntheorien zugrunde liegen, fasst WOLFF (1997,
S. 107) wie folgt zusammen:
Daraus ergeben sich spezielle Anforderungen an eine konsequente Umgestaltung institutionalisierter Unterrichtsprozesse (vgl. WOLFF 1997, S. 108). Für die Gestaltung entsprechender Lernumgebungen lassen sich folgende grundlegenden Aspekte ableiten: Umgang mit realistischen Problemen und authentischen Situationen, multiple Kontexte für einen flexiblen Transfer auf andere Problemstellungen, Problemerschließung aus unterschiedlichen Perspektiven, kooperatives Problemlösen in Lerngruppen und gemeinsames Lernen in der Interaktion zwischen Lernenden und Experten (s. GERSTENMAIER & MANDL1995). Kernüberzeugungen gemäßigter konstruktivistischer Instruktionspsychologen entsprechend wird Wissen von den Lernenden immer aktiv konstruiert. Dabei spielen Vorwissen und kognitive Strukturen des Individuums, situativer Kontext und soziale Interaktion eine wesentliche Rolle (zusammenfassende Übersicht s. u.a. LANKES 1997 und FÖLLING-ALBERS 1997). Aus der Perspektive naturwissenschaftsdidaktischer Lehr-Lernforschung votieren DUIT(1995, 1996, 1997, 2000) und MÖLLER (1997, 1999, 2000) u.a. für eine "inklusive konstruktivistische Sicht von Lernen" (DUIT 1997, S. 240) und einen moderat konstruktivistischen Ansatz, der klassische Lerntheorien des Konzeptwechsels (conceptual change) mit sozial-konstruktivistischen Positionen (z.B. kollaborative Wissenskonstruktion in kooperativen Lerngruppen) und Theorien der situierten Kognition verknüpft. Nach MÖLLER (1999, S. 132/133 und 2000, S. 141/142) lässt sich der Lernprozess in einem moderat konstruktivistisch orientierten Unterricht durch folgende Lernformen kennzeichnen: eigenaktives konstruktives Lernen, situatives Lernen, soziales und kooperatives Lernen, selbstgesteuertes und unterstütztes Lernen. Dabei spielen nicht nur kognitive Aspekte, sondern auch die Vorerfahrungen und Interessen der Lernenden, emotionale Kontexte und die persönliche Identifikation mit den Lerninhalten eine Rolle. "Inhaltlich muss sich der Unterricht an komplexen, lebens- und berufsnahen, ganzheitlich zu betrachtenden Problembereichen orientieren (DUBS 1995, S. 890)." Zur konkreten Gestaltung entsprechender Lehr-Lernsituationen vgl. MÖLLER (1999, 2000). Auch in der Pädagogik und allgemeinen Didaktik werden konstruktivistische Positionen zunehmend rezipiert (vgl. u.a. KLEIN & OETTINGER 2000 und 2001, LSW 1995 und 1999, SIEBERT 1999, TERHART 1999). Die wichtige Frage nach den Bildungsinhalten, welche die aktuelle Allgemeinbildungsdebatte der letzen Jahre bestimmt (s. Epochaltypische Schlüsselprobleme) bleibt davon allerdings weitgehend unberührt. Konstruktivistische Didaktik hat nach TERHART (1999, S. 645) "... keine wirklich radikal neue Formen für die Praxis des Unterrichtens anzubieten...", sondern orientiert sich an bekannten methodischen Formen, die selbständiges, entdeckendes, erfahrungs- und handlungsorientiertes sowie kooperatives Lernen fördern wollen. "Die Inhaltlichkeit, der Sachanspruch selbst - und damit der weitere Horizont einer bildungstheoretisch zu begründenden Auswahl und Anordnung der Inhalte - ...", spielt allenfalls eine marginale Rolle. "Im Grunde entsteht eine aller Inhaltlichkeit weitgehend entkernte Prozess-Didaktik (und damit eine Methodik?), die in ihren konkreten Vorstellungen zur Gestaltung des Lehr-Lern-Prozesses im wesentlichen einer Synthese von Ideen J. DEWEYS, J. PIAGETS und M. WAGENSCHEINS entsprungen sein könnte". Nach KLEIN & OETTINGER (2000, S. 60 - 63) repräsentieren Prinzipien wie Schülerorientiertheit, Handlungsbetonung und Begleiterrolle des Lehrers die gemeinsame Schnittmenge zwischen Konstruktivismus und Reformpädagogik. Insgesamt gesehen verdanken wir der aktuellen Konstruktivismus-Debatte zumindest die Verbreitung der Einsicht, dass Wissenserwerb ein individuell unterschiedlich verlaufender Prozess der eigenaktiven Konstruktion von Wissen und Entwicklung entsprechender kognitiver Strukturen ist, was wir bei der Organisation von Unterrichtsprozessen angemessen berücksichtigen müssen. "Versteht man den Konstruktivismus als eine Perspektive und verzichtet man auf einen fundamentalistischen Geltungsanspruch, dann bietet er gegenwärtig vielleicht den vielversprechendsten theoretischen Rahmen für eine Analyse und Förderung von Prozessen des Wissenserwerbs in den unterschiedlichsten sozialen Kontexten GERSTENMAIER & MANDL 1995, S. 863/864)."
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