Über die stammesgeschichtliche Entwicklung der Regenwürmer ist viel spekuliert worden. Da sie außer ihren chitinhaltigen Borsten keine festen Körpersubstanzen oder dauerhafte Skelettelemente besitzen, gibt es kaum fossile Lebensspuren aus vergangenen geologischen Epochen. Vieles spricht aber dafür, dass Regenwürmer zu den ältesten Tierarten des Festlandes gehören.
Nach der Theorie von Dietrich E. WILCKE (1955) lassen sich gesicherte Hinweise darauf ableiten, dass es seit über 100 Millionen Jahren Regenwürmer auf bzw. in der Erde gibt. WILCKE stützt sich dabei auf bodenkundliche und ökologische Aspekte. Da Regenwürmer ausgeprägte Bodenbewohner (= Geobionten) sind, ist ihre Entwicklungsgeschichte eng an die Bodenbildung an der Erdoberfläche gebunden. Böden ihrerseits entwickeln sich aus der Verwitterung mineralischer Substanzen der Erdkruste und der Verwesung organischer Substanzen. Dabei spielen Vegetationsrückstände eine entscheidende Rolle, an deren Zersetzung und Einarbeitung in die Bodensubstanz Bodentiere - insbesondere Regenwürmer (s. Bedeutung der Regenwürmer) - maßgeblich beteiligt sind.
„Die heutigen Regenwurm-Arten wären ohne die von den Abfällen der Blütenpflanzen beeinflussten Böden nicht lebensfähig. Demnach könnte die Entstehung der heutigen Regenwurm-Familien und -Gattungen beim Beginn des Mesozoikums - vor etwa 200 Millionen Jahren - eingesetzt haben und im Laufe des Tertiärs (vor 0.7-60 Millionen Jahren) nach Entwicklung der laubtragenden Kraut- und Holzgewächse abgeschlossen gewesen sein“ (GRAFF 1983, S. 14).“Ihre Hauptentwicklung dürften sie wohl mit dem Auftreten der Blütenpflanzen vor etwa 100 Mio. Jahren erfahren haben. Die Entwicklung der Hauptgruppen der Blütenpflanzen erfolgte im Verlauf der Kreidezeit vor 135 bis 65 Millionen Jahren“ (BUCH 1986, S. 22).
Das Vorkommen der Regenwürmer ist „... eng verknüpft mit den Entwicklungsphasen, denen ein Bodentyp im Laufe seiner Entwicklung unterworfen ist“ (WILCKE 1955, zit. nach BRAUNS 1968, S. 304). Da Regenwürmer wesentlich an der Humusbildung im Boden beteiligt sind, kann aus der geologischen Bodenentwicklung auf die stammesgeschichtliche Entwicklung der Regenwürmer geschlossen werden. Nach WILCKE reicht die Entwicklung der echten Mullböden zumindest bis in die obere Kreide (vor mehr als 60 Millionen Jahren), das Auftreten von Moderböden bis ins obere Perm (Beginn vor mehr als 200 Millionen Jahren) zurück. Demnach haben humusbildende Regenwürmer bereits zu Beginn des Mesozoikums existiert (BRAUNS 1968, S. 304). Unterstützt wird diese Annahme durch den Fund einer fossilen Enchyträide im tertiären Bernstein. Enchyträen repräsentieren eine mit den Regenwürmern nahe verwandte Familie, beide gehören zur Ordnung der Wenigborster (Oligochaeten; s. Stellung im Tierreich).
Ein weiterer Hinweis auf das stammesgeschichtliche Alter der Regenwürmer ergibt sich aus der von A. WEGENER (1915) begründeten Theorie der Kontinentalverschiebung (s. GRAFF 1983, S. 53; BUCH 1986, S. 22). So finden wir heute Regenwurmgattungen, die sowohl im Osten Nordamerikas als auch in Europa verbreitet sind, und solche, die in Mittelamerika und Westafrika oder an den Südspitzen beider Kontinente gleichermaßen vorkommen. Das deutet auf eine gemeinsame Entwicklung hin, die vor mehr als 100 Millionen Jahren stattgefunden haben muss, bevor das Auseinanderdriften der Kontinentalmassen im Jura eingesetzt hat.
Weitere Informationen:
Literatur
BRAUNS, A. (1968): Praktische Bodenbiologie. Stuttgart: G. Fischer.
BUCH, W. (1986): Der Regenwurm im Garten. Stuttgart: Ulmer.
GRAFF, O. (1983): Unsere Regenwürmer: Lexikon für Freunde der Bodenbiologie. Hannover: Schaper.
WILCKE, D.E. (1955): Bemerkungen zum Problem des erdzeitlichen Alters der Regenwürmer (Oligochaeta opisthopora). Zoologischer Anzeiger 154, Heft 7/8, S. 149-156 (zit. bei BRAUNS 1968).
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